Das angehaltene Leben/Das erste Kapitel

Da mauriziotorchio.

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Die Krüppel, Krüppel. Es sind die Krüppel, die an Wunder glauben. Es sind die Sklaven, die an die Freiheit glauben.

Derek Walcott, Der Traum auf dem Affenberg


Der staatliche Verband geht aber von Natur dem Haushalt und jedem Einzelnen von uns voraus; denn das Ganze geht notwendigerweise dem Teil voraus. Wenn nämlich das Ganze zerstört wird, wird kein Teil, weder Fuß noch Hand weiter existieren – außer homonym, wie wenn man die Bezeichnung Hand für eine Hand aus Stein benutzte (…). Wer aber nicht fähig ist, Mitglied der staatlichen Gemeinschaft zu sein oder aufgrund seiner Autarkie ihrer nicht bedarf, der ist kein Teil des staatlichen Verbandes und somit entweder Tier oder Gott.

Aristoteles, Politik



Sie sagen: Ohren. Du klappst die Ohren mit den Händen vor und drehst dich erst nach rechts, dann nach links.

Nasenlöcher. Du biegst den Kopf zurück, um die Inspektion zu erleichtern.

Mund. Du machst den Mund auf. Die Türen des Körpers öffnen sich auf Befehl. Du öffnest den Mund, doch sie nähren dich nicht. Sie fügen nichts hinzu, sie kontrollieren, damit du nichts hast.

Zunge anheben. Du gehorchst.

Zunge rausstrecken. Du gehorchst.

Zahnfleisch. Du ziehst die Lippen hoch, mit den Händen. Deine Finger im Dienst der Wärter.

Der Mund ist leer, alles vorschriftsgemäß. Kommt man zurück, ist er meistens leer, denn beim Ausgang sollte man viel reden. Man sollte mit einer Frau zusammen sein, die das Gefängnis kennt: weil sie selbst Gefangene war oder als Kind zum Besuch eines Vaters, eines Bruders mitgenommen wurde. Vielleicht sitzt ihr Mann noch. Manche Frauen haben es eilig, sie verstehen nichts. Sie denken, wenn du seit zwanzig Jahren keine Frau hattest, willst du dich schon auf der Straße überfressen. Doch wer das Gefängnis kennt, wird dich nach Hause bringen, dich Tropfen für Tropfen sättigen. Ihr werdet nachmittags zu ihr gehen, hoffen, dass es bald dunkel wird. Sie wird dir einen Kaffee anbieten. Und du wirst reden. Du wirst reden. Du musst dir den Mund ausleeren. Ein bisschen Gefängnis rauslassen. Wenn du nicht redest, ist kein Platz für anderes da.

Toro geht zu so einer Frau.

Zurück im Gefängnis sagen sie: Hände, und du streckst die Arme vor, spreizt die Finger, wie um nicht hinzufallen im Dunkeln. Dann bewegst du die Finger. Schwer zu verstehen, warum. Wer kann etwas zwischen den Fingern einer offenen Handfläche verstecken? Doch wenn du von einem Ausgang zurückkommst, bist du so stolz auf deine Hände, dass du es fast gern tust. Es sind Männerhände, endlich. Soll ich dir einen Kaffee machen, wird die Frau gefragt haben. Danke, antwortet Toro. Du hebst die Tasse an den Mund, und es ist, als hättest du ein Waschbecken zwischen den Lippen, so dick ist sie, so schwer. Ich hatte nie Ausgang und werde niemals rauskommen können. Aber ich habe das erlebt, vor acht Jahren, als ich zu einer Gerichtsverhandlung ging. Ein echter Löffel, aus Edelstahl, es ist mühsam, damit umzurühren. Dieses Klingeln, nach Jahren mit Plastik. Die Tasse zerbricht, wenn sie herunterfällt, du hast eine Verantwortung. Es ist eine Tasse für Erwachsene. Wenn Polizisten dich bei einer Verlegung begleiten, kann es vorkommen, dass sie an der Autobahnraststätte halten und dir einen Kaffee anbieten. Die Wärter nie. Denn Polizisten haben gewöhnlich mit freien Menschen zu tun, die noch festgenommen werden können. Polizisten wird beigebracht, ein Gesicht wiederzuerkennen, auch nach Jahren noch. Den Wärtern nicht.

Achselhöhlen. Toro hebt die Arme.

Anheben und trennen. Er hebt den Penis an, trennt die Hoden.

Vor ein paar Stunden hat die Frau sie in den Händen gehalten, warmes Fleisch, nach kalten Mauern.

Vor den Wärtern ist Toro nackter als vor ihr.

Im Gefängnis lernst du wieder die Angst vor der Dunkelheit. Toro wird die Frau gebeten haben, ein kleines Licht brennen zu lassen, eine Nachttischlampe, und sie auf den Fußboden zu stellen, unters Bett. Schichten zwischen sie beide und das Licht legen. Und in diesem Halbdunkel haben sie sich angeschaut. Die Frau kennt das Gefängnis, darum entschuldigt sie sich nicht dafür, dass das Zimmer so klein ist. Sie macht den Gasofen an. Fast alle Gegenstände um sie herum gab es schon vor zwanzig Jahren. Vielleicht nicht in diesem Zimmer. Vielleicht nicht genau in diesen Farben. Vielleicht größer, weniger schäbig, neuer. Aber nichts ringsherum macht dich verlegen. Seit die Frau das Handy abgestellt und auf den Nachttisch gelegt hat, scheint nichts mehr aus der Zukunft anzukommen. Nichts zwingt dich dazu, die Jahre zu zählen. Das gelbe Licht unter dem Bett, das blaue Licht des Gasofens.

Oben auf den Stockwerken sehen sie Frauen im Fernsehen, treffen sie in der Besuchszeit. Ich nicht.

In Ordnung, dreh dich um, sagen die Wärter.

Füße, befehlen sie. Erst ein Fuß, dann der andere, wie ein Pferd. Füße, sofort schmutzig vom Gefängnis.

Bücken und öffnen.

Toro beugt sich vor und zieht die Hinterbacken auseinander.

Husten.

Wenn du nicht wegen der Kälte hustest, hustest du auf Kommando. Das machen sie, um dich zu demütigen. Wenn sie wirklich kontrollieren wollten, müssten sie einen Scanner benutzen oder Handschuhe anziehen und einen Finger reinstecken. Aber sie sagen bücken und husten, beobachten die Kontraktionen. Ein Befehl ist eindringlicher, wenn er nichts nützt.

Toro ist zum Glück noch ganz von der Frau erfüllt.

Jedes Mal, wenn sie sich trennen, segnet sie ihn. Wie einen Sohn, der in den Krieg zieht. Einen sechzigjährigen Sohn.

Und jedes Mal fragt sie: Warum haust du nicht ab? Du hast lebenslänglich, warum gehst du zurück?

Aber Toro weiß, dass sie ihn sofort schnappen würden. In seinem Viertel, in seiner Bar, an dem Tischchen ganz hinten, dicht an der Wand.

Die Einzigen, die es wirklich schaffen auszubrechen, sind die, die überall leben können: nicht telefonieren, nicht schreiben. Zu niemandem Kontakt aufnehmen, niemals. An einem Ort sterben und an einem anderen wiedergeboren werden, ohne Bedauern. Sich bewegen, wie sie Geld bewegen: blitzschnell, und sie bekommen es nicht einmal zu Gesicht. Toro aber ist einer, der immer mit Bargeld zu tun hatte. Er hat Hände groß wie Schaufeln. Den Körper eines Mannes, der arbeitet, seit Generationen, obwohl Toro nie gearbeitet hat. Das Einzige, was er schleppen musste, war Geld, haufenweise Geld. Und ständig das Problem, Säcke, Koffer, Keller, Gepäckräume, Orte zu finden, die all dieses Geld aufnehmen konnten. Auf Wasser aufpassen, auf Feuer, Tiere, Schimmel. Wind und Regen. Immer die Sorge, einen Teil vergessen zu haben, irgendwo. Und sich nicht zu erinnern, wo.

Toro kann nicht verschwinden.

Für solche wie ihn gibt es Flucht nur als Versteck in einem unterirdischen Bunker, nicht weit von zu Hause. Nicht weit von einem Sohn, der dort begraben liegt.

Besser das Gefängnis: Man ist öfter an der Sonne, man trifft mehr Leute.

Darum hat Toro die Frau zurückgelassen und ist losgegangen, ist Autos und Passanten ausgewichen.

Draußen gibt es immer jemanden, der dich anrempelt, und die Autos werden jedes Jahr leiser. Drinnen, auch im allergrößten Gefängnis, weißt du, wie du dich bewegen musst, wenn du weißt, wer du bist. Einer wie Toro kann hier mit geschlossenen Augen gehen, weil alle ihm Platz machen werden. Ein Gefängnis ohne geordneten Hofgang ist ein Gefängnis, wo niemand sein will. Hier herrscht Ordnung im Hof, wenn der erste oder der dritte Stock in die Freistunde runtergeht, die sind organisiert. Wenn der zweite dran ist, oder das Erdgeschoss, herrscht Chaos, denn das sind alles Junkies oder Leute, die nirgendwo dazugehören.

Draußen aber ist nichts organisiert, du musst andauernd ausweichen. Du spürst die Eile der Leute um dich herum. Hast das Gefühl, dass sie alle hintereinander in einer Reihe gehen, hinter dir, und sich fragen: Wer ist das, dieser verlangsamte Mann? Und manchmal trifft das zu. Du hast das Gefühl, sie haben erkannt, woher du kommst. Doch das trifft nie zu, denn die von Draußen denken niemals ans Drinnen.


Maurizio Torchio: Das angehaltene Leben. Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2017

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